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Essen wir bald Genfood?

Landet bald Genfood auf unseren Tellern? Unerkannt? Das kann passieren, wenn die EU-Kommission sich mit ihren Plänen für die neuen Gentechniken durchsetzt. Nicht nur die Bio-Branche ist entsetzt.

Sicilian Rouge heißt eine von Tausenden von Tomatensorten, die rund um die Welt angebaut werden. Die Früchte der Sizilianischen Roten (so die Übersetzung) sind länglich geformt, glatt und knackig rot. Kaum jemand würde diese Sorte kennen – hätten nicht einige japanische Wissenschaftler sie für ihre gentechnischen Versuche verwendet. Mit Hilfe des neuen gentechnischen Verfahrens Crispr/Cas (Gen-Schere) schalteten die Forscher:innen einige Gene im Erbgut der Pflanze aus und brachten sie so dazu, Gamma-Aminobuttersäure (GABA) zu produzieren. Der Botenstoff soll den Blutdruck senken und den Schlaf fördern. Die neuen „Sicilian Rouge High GABA“-Tomaten enthalten fünf bis sechsmal so viel GABA wie herkömmliche Tomaten. In Japan ist diese Crispr-Tomate inzwischen als Sorte registriert und der Anbau erlaubt. Keine Behörde dort überprüfte, ob mit dem Verzehr dieser Tomaten gesundheitliche Risiken verbunden sein könnten.

Was sagt das EU-Gentechnikrecht?

In der Europäischen Union (EU) braucht Genfood eine Zulassung – noch. Käme jemand auf die Idee, diese womöglich blutdrucksenkende Tomate in der EU verkaufen oder anbauen zu wollen, müsste er einen Antrag stellen. Das verlangt das EU-Gentechnikrecht. Um die Zulassung zu erhalten, muss der Hersteller nachweisen, dass sein gentechnisch veränderter Organismus (GVO) – in diesem Fall die GABA-Tomate – die Gesundheit von Menschen und Tieren sowie die Umwelt nicht gefährdet. Mit der Zulassung verbunden ist die Pflicht, Produkte, die den GVO enthalten, zu kennzeichnen. Denn nur so können sich Unternehmen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher, die keine Gentechnik im Essen wollen, auch dagegen entscheiden.


Diese Regelungen entstanden Anfang des Jahrtausends als Antwort auf die damals auf den Markt drängenden gentechnisch veränderten Pflanzen. Bei dieser „alten“ Gentechnik wurden artfremde Gene an zufälligen Stellen in das Erbgut eingebaut. Mit neuen gentechnischen Verfahren (NGT) wie Crispr/Cas können gezielt vorhandene Gene des Erbguts abgeschaltet oder umgebaut werden. Damit tauchte die Frage auf, ob auch derart – also ohne den Einsatz artfremder Gene – veränderte Pflanzen unter das EU-Gentechnikrecht fallen. Der Europäische Gerichtshof beantwortete diese Frage im Juli 2018 mit Ja und begründete dies mit dem Vorsorgeprinzip und den weitgehend unbekannten Risiken dieser neuen Verfahren.

Pro und contra neue Gentechniken

Pro

Seither laufen gentechnikbegeisterte Wissenschaftler:innen, Unternehmen und Politiker:innen Sturm gegen das Urteil. Sie fordern, die neuen gentechnischen Verfahren aus dem EU-Gentechnikrecht auszunehmen – sofern sie kein artfremdes Erbgut einbringen. Sie begründen dies damit, dass sich mit diesen Verfahren nachhaltige Pflanzen herstellen ließen, die widerstandsfähig gegen Krankheiten und extreme Klimabedingungen seien. Dadurch ließen sich Pestizide verringern und die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung sichern. Diese Pflanzen müssten schnell auf den Markt kommen, so die Befürworter:innen. Doch das derzeitige Recht mit seinen aufwendigen Zulassungsverfahren und der Kennzeichnungspflicht verhindere dies. Dabei seien die Pflanzen sicher, weil ja nur kleine Änderungen am Erbgut durchgeführt würden, die auch auf natürliche Weise zustande kommen könnten.

Contra

Bio- und Umweltverbände sowie andere gentechnikkritische Organisationen und Unternehmen halten dagegen: Mit den neuen Verfahren werde in einer bisher nicht dagewesenen Tiefe in das Erbgut und die Steuerung der Gene eingegriffen. Dabei komme es – wie viele Studien inzwischen gezeigt hätten – zu ungewollten Veränderungen im Erbgut. Und zwar am Ort des Eingriffs selbst (On-Target-Effekte) und an entfernteren Stellen im Erbgut (Off-Target-Effekte). Sowohl durch die Eingriffe als auch durch die dabei auftretenden Veränderungen entstünden neue Risiken. Sie müssten gemäß dem Vorsorgeprinzip geprüft werden, bevor solche Produkte auf den Markt kommen dürfen. Außerdem müsse die Kennzeichnungspflicht erhalten werden, damit die Menschen weiter frei entscheiden können.

Welche Pflanzen entwickelt werden

Für Stella Kyriakides, EU-Kommissarin für Gesundheit und Verbraucherschutz, sind mit neuen gentechnischen Verfahren (NGT) hergestellte Pflanzen „notwendige Innovationen, um Klimawandel und Umweltprobleme zu bewältigen“. Doch EU-Expert:innen fanden im April 2021 in den Entwicklungsabteilungen von Gentechnikkonzernen und Forschungseinrichtungen keine einzige dürretolerante NGT-Pflanze, die in den nächsten fünf Jahren auf den Markt kommen könnte. Krankheitsresistente NGT-Pflanzen waren es zwei. Im Vordergrund standen bei den Entwicklungen im „vorkommerziellen Stadium“ Pflanzen mit Resistenzen gegenüber Herbiziden (Pflanzenvernichtungsmitteln) und geänderten Inhaltsstoffen.

Wie steht die EU-Kommission zu den neuen Gentechniken?

Die EU-Kommission hat sich die Position der Gentech-Unternehmen zu eigen gemacht. Sie glaubt deren Erzählung, dass NGT-Pflanzen die Landwirtschaft nachhaltiger machen. Deshalb will sie das Gentechnikrecht deregulieren und Ausnahmen für NGT-Pflanzen schaffen. Szenarien dafür hat die Kommission im Sommer 2022 an verschiedene Verbände verschicken lassen. Sie sehen vor, Risikobewertung und Kennzeichnung teilweise oder ganz abzuschaffen. Die konkreten Gesetzesvorschläge dafür will die Kommission im zweiten Quartal 2023 vorlegen.

Warum Gentechnikverfahren für Bio gefährlich sind

Während die Gentech-Lobby die Kommission auf ihre Seite gebracht hat, versuchen gentechnikkritische Organisationen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. So starteten die Bio-Verbände eine Online-Petition gegen die Pläne der Kommission, die von über 420 000 Menschen unterschrieben wurde. Für die Öko-Branche sind die Pläne besonders gefährlich, weil die Bio-Standards Gentechnik ausschließen. Doch mit den geplanten Regeln könnten NGT-Pflanzen unerkannt die gesamte Bio-Wertschöpfungskette verunreinigen. „Die wirtschaftliche Existenz von mehr als 35.000 landwirtschaftlichen Öko-Betrieben und über 15.000 verarbeitenden Betrieben, Importeuren und Handelsunternehmen der Bio-Wirtschaft allein in Deutschland stünde infrage“, warnt Katrin Jäckel, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Naturkost Naturwaren. Auch die gentechnikfreie konventionelle Lebensmittelwirtschaft sieht sich „massiv bedroht, wenn mit neuer Gentechnik erzeugte Pflanzen ungetestet und ungekennzeichnet auf den Markt kämen“, so Alexander Hissting, Geschäftsführer des Verbandes Lebensmittel Ohne Gentechnik. Viele große Handelsunternehmen haben die EU-Kommission aufgefordert, neue Gentechnikverfahren ebenso zu regulieren wie die alten.

Wie stehen die Deutschen zur Gentechnik?

Die Bevölkerung in Deutschland sieht Gentechnik nach wie vor kritisch. In einer Umfrage des Umweltinstituts München aus dem Jahr 2021 gaben 84 Prozent der Befragten an, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel gekennzeichnet werden sollten. Ebenso viele verlangten, dass Produkte alter und neuer Gentechnik einer umfassenden Risikobewertung unterzogen werden. „Statt sich zum Erfüllungsgehilfen der Gentechnik-Lobby zu machen, muss die EU-Kommission respektieren, dass die überwältigende Mehrheit der EU-Bürgerinnen und -Bürger Lebensmittel ohne Gentechnik bevorzugt”, sagt Tina Andres, Vorstandsvorsitzende des Bio-Dachverbandes BÖLW.

Gentechnik: Fast nur im Tierfutter

  • 1996 brachte Monsanto (heute Bayer) die erste gentechnisch veränderte (gv) Nutzpflanze auf den Markt. Die Roundup-Ready-Sojabohne war gegen das konzerneigene Herbizid Glyphosat resistent. Bald kamen Pflanzen hinzu, die ein Gift gegen Insekten, das Bt-Toxin, produzierten.
  • Heute wachsen weltweit auf 190 Millionen Hektar Gentech-Pflanzen. Der größte Teil des Anbaus entfällt auf Soja, Mais, Raps und Baumwolle und konzentriert sich auf wenige Länder, allen voran USA, Brasilien, Argentinien, Kanada, Indien.
  • Weil auf Gentech-Feldern immer mehr Unkräuter und Schadinsekten resistent werden, geht der Trend zu Pflanzen, die gegen mehrere Herbizide resistent sind und mehrere Bt-Toxine produzieren.
  • Um Importe und Anbau von gv-Pflanzen zu regeln, beschloss die EU Anfang des Jahrtausends ein strenges Zulassungsverfahren und eine Kennzeichnungspflicht. Diese führte dazu, dass Lebensmittel mit gv-Zutaten aus den Regalen verschwanden – weil die Menschen in der Europäischen Union sie nicht kauften. Auch der Anbau konnte sich nicht durchsetzen und beschränkt sich auf wenige gv-Maisfelder in Spanien und Portugal.
  • Allerdings importiert die EU rund 30 Millionen Tonnen gv-Soja als Tierfutter. Es muss auf den damit hergestellten tierischen Lebensmitteln nicht deklariert werden. In Deutschland greifen deshalb immer mehr Menschen zu tierischen Lebensmitteln, die ein Ohne-Gentechnik-Siegel tragen.
  • Für Bio-Lebensmittel ist Gentechnik sowieso verboten, weshalb das Bio-Zeichen ebenfalls Gentechnikfreiheit signalisiert.

Wie steht die Bundesregierung zu den neuen Gentechniken?

Bisher hat sich die Kommission nicht von ihrem Gentechnik-Kurs abbringen lassen. Doch sie liefert nur die Vorlage. Entscheiden darüber müssen die Mitgliedsstaaten und das EU-Parlament. Deshalb haben rund 100 Organisationen die Bundesregierung aufgefordert, sich für eine strikte Regulierung der neuen Gentechniken einzusetzen. „Es ist wichtig, dass auch NGT weiterhin einem Zulassungsverfahren unterliegen“, sagte daraufhin Agrarstaatssekretärin Silvia Bender im April vergangenen Jahres. Ihr Risiko müsse bewertet und ihre Produkte gekennzeichnet werden.

Dennoch wird sich die Bundesregierung auf EU-Ebene bei Gentechnik-Entscheidungen voraussichtlich enthalten. Denn die FDP als Regierungspartner befürwortet neue gentechnische Verfahren und würde das EU-Gentechnikrecht gerne aufweichen. Bei einer Tagung der EU-Agrarminister im September 2022 hielt sich deshalb Bundesagrarminister Cem Özdemir bedeckt. Zwei Drittel der Mitgliedsstaaten teilten bei dieser Gelegenheit mit, dass sie einer Deregulierung offen gegenüberstehen. Im Europaparlament stellen die gentechnikkritischen Abgeordneten bisher die große Mehrheit. In einer Stellungnahme betonten sie „das Vorsorgeprinzip und die Notwendigkeit, Transparenz und Wahlfreiheit für Landwirte, Verarbeitungsbetriebe und Verbraucher sicherzustellen“. Dazu werden sie voraussichtlich noch in diesem Jahr Gelegenheit haben.

Interview: „Lobbyverbände manipulieren die Debatte“

Nina Holland recherchiert für die Bürgerrechtsorganisation Corporate Europe Observatory die Aktivitäten der Agrarindustrie in Brüssel.

Wie groß ist der Einfluss der Agrarindustrie in Brüssel?
Traditionell sehr stark. Biotech- und Pestizidkonzerne haben ihre eigenen Lobbybüros, aber die Strategien werden von ihren Lobbyverbänden wie EuropaBio oder CropLife Europe ausgearbeitet. Jeder dieser Verbände verfügt über ausreichende Mittel, um spezialisierte Lobby- und Anwaltskanzleien zu beauftragen, von denen es in Brüssel Hunderte gibt. Die gesamte Agrarlobby koordiniert sich in der Agri-Food Chain Coalition.

Wie arbeiten diese Lobbyverbände?
Sie manipulieren durch einseitige Darstellungen die wissenschaftliche Debatte. Und sie verbreiten Panik, indem sie vor Arbeitsplatz- oder Wirtschaftsverlusten warnen und Echokammern schaffen. Dazu ziehen sie andere Organisationen heran, um ihre Botschaft zu verbreiten. Im Fall der Agro-Gentechnik wird ein großer Teil der Lobbyarbeit von Forschern betrieben, die vorgeben, die gesamte wissenschaftliche Gemeinschaft zu vertreten. Deren Plattformen luden zum Beispiel Beamte aus nationalen Ministerien zu Strategiesitzungen mit Lobbyisten ein. Und eine Denkfabrik propagierte mit Geldern der Gates-Stiftung die angeblichen Klimavorteile von Pflanzen, die mittels neuer gentechnischer Techniken (NGT) hergestellt wurden.

Sind diese Wissenschaftler:innen frei von Eigeninteresse?
Viele Forschende, die aktiv für die Deregulierung neuer gentechnischer Techniken lobbyieren, haben enge Verbindungen zur Saatgutindustrie und besitzen Patente oder Patentanmeldungen in diesem Bereich. Doch sie legen diese wirtschaftlichen Interessen nicht offen. Das zeigten Untersuchungen der Grünen im Europäischen Parlament. Auch mehrere Gentechnik-Expertinnen und -Experten der EU-Lebensmittelbehörde EFSA haben solche Interessenskonflikte.

Berücksichtigt die EU-Kommission bei ihren Anhörungen eigentlich alle Interessengruppen gleich?
Nein. Die EU-Institutionen gewähren der Industrie einen privilegierten Zugang. Für ihre Studie über NGT im Jahr 2021 lud die Kommission gezielt Interessengruppen ein. 70 Prozent davon gehörten der Industrie an. Keines der von den wenigen konsultierten Nichtregierungsorganisationen, dem Bio-Sektor und den Landwirt:innen eingebrachten Argumente wurde von der EU-Kommission berücksichtigt.

Beobachten Sie derzeit verstärkte Lobbying-Aktivitäten zum Thema Gentechnik?
Ja, es gibt derzeit eine Lawine von Lobbyveranstaltungen, die auf die Abgeordneten des Europäischen Parlaments abzielen, damit sie ein dereguliertes Gentechnikrecht unterstützen.

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